Carl Amery prophezeit in seinem neuen Buch "Hitler als Vorläufer"
eine grausame Zukunft
SZ vom 30.09.1998, München: Der Holocaust der Wirtschaftssysteme
Sein Herz schlägt für Grün, manchmal sieht er rot, ein bißchen auch schwarz:
Carl Amery. Der mit vielen Preisen ausgezeichnete 76jährige Münchner
Publizist, Zeitkritiker und Naturschützer gilt als widerborstiges, scharfzüngiges
Original. Soeben erschien sein neuestes Buch "Hitler als Vorläufer"
bei Luchterhand. In dem Essay widerspricht Amery der oft vertretenen Meinung,
Auschwitz sei eine Art Betriebsunfall der Geschichte gewesen. Er beschreibt den
Mord an den Juden als eine ideologisch logische Folge. Seine provokante These:
Der Holocaust sei die erste zusammenhängende Antwort der Moderne auf die Frage
nach dem Überleben angesichts von begrenzten Ressourcen und Umweltzerstörung -
eine Art ökologische Entscheidung also. Heute abend liest der Autor im
Literaturhaus. Beginn ist um 20 Uhr.
SZ: War Adolf Hitler ein Öko?
Amery: Der Ausdruck ist verfrüht bei ihm. Er hat aber einen entscheidenden
theoretischen Schritt getan. Der Staat ist bei ihm Diener eines
naturgeschichtlichen Prozesses. Darauf hat Hitler die Geschichte barbarisch
reduziert. Er behandelte die Juden wie eine Krankheit, weil ihre Botschaft vom
friedlichen Miteinander und dem Schutz der Schwachen seiner Meinung nach gegen
die Natur war. Er war überzeugt, die Juden würden eines Tages die Lebenswelt
zerstören. Das "Herrenvolk" sollte die Welt retten. Die Hitler-Formel
lautete: "Die Ressourcen reichen nicht für alle, also muß selektiert
werden."
Wie aktuell ist diese "Heilsbotschaft"?
Je älter ich werde, desto ungerner mache ich präzise Prognostik. Aber wenn die
Menschen erst einmal um Kartoffelvorräte und Wasserlöcher kämpfen, wird sich
die Frage stellen, wie wir unsere Gesellschaft organisieren, um unser bißchen
Kulturgeschichte zu retten. Dann ist vorstellbar, daß eine Gruppe von
Leistungsträgern - für Hitler war es eine Rasse - die Verantwortung für den
Rest der Menschheit übernimmt. Das können Staaten sein, zum Beispiel China, Rußland
und durchaus auch Amerika. Oder es entwickelt sich eine Sahib-Kultur, um die UNO
herum, die Weltbank, GATT, WHO und so weiter.
Das endet doch aber nicht in einer Barbarei wie bei den Nazis.
Die Selektion innerhalb der Wirtschaftssysteme ist heute eine versteckte. Die
Mutter, die mit ihrem verhungerten Baby auf dem Arm durch die Wüste des Sudan
stolpert, ist bereits herausselektiert. Das muß man sich klarmachen.
Das klingt, als wären die Wirtschaftssysteme so unmoralisch und grausam, wie es
für die Nazis die Natur war.
Wirtschaft hat mit Moral nichts zu tun. Wozu auch? Sie ist dazu da, das
Lebensmittel zu beschaffen. Entscheidend ist, in welches Wertesystem sich die Ökonomie
einordnet. Das tut sie heute überhaupt nicht mehr. Sie bestimmt selber, was
Moral ist. So läuft der Laden.
Fährt er damit gegen die Wand?
Das Wirtschaftssystem hat sich aufgemacht, die Herrschaft der Natur zu brechen.
Seit der Renaissance arbeitet der Mensch an einem Programm, seine
Selbsterhaltung mit allen Mitteln zu sichern. Dieses Unternehmen ist sehr
erfolgreich, gleichzeitig aber idiotisch. Lebensgrundlagen lassen sich nicht auf
der Basis einer einzigen Spezies definieren. Die Lebenswelt vernachlässigt der
Ökonomismus, wie er heute betrieben wird, vollständig. Das ist garantiert der
Weg ins Nichts.
Sind Sie so pessimistisch?
Mathematisch-rational bin ich natürlich Pessimist. Jeder, der das heute nicht
ist, ist dumm. Aber das ist keine Handlungsgrundlage. Ich bin ein
leidenschaftlicher Zeitgenosse. Der letzte Satz meines Buches lautet: "Der
Mensch kann die Krone der Schöpfung bleiben, wenn er begreift, daß er sie
nicht ist." Wir sind nicht die Krone der Schöpfung. Wir sind ein äußerst
liebenswürdiges, in beschränkter Auflage hergestelltes, in Leder gebundenes
Lebensexemplar.
Nehmen Sie an, Sie wären ein - wie Sie beschreiben - "planet manager"...
...den Posten würde ich ablehnen. Das Verbum stimmt schon nicht. Man kann die
Welt nicht managen.
Trotzdem: Was würden Sie tun?
Ich würde möglichst viele Kulturen zu beleben versuchen. Komplexität sichert
das Überleben. Ich würde ein Muster schaffen, nein, mitarbeiten an einem
kulturellen Muster, in dem der Freiheitsvorteil der Beschränkung erkannt wird.
Insofern sind die größten Modelle der Geschichte nach wie vor Männer wie
Franz von Assisi, Buddha oder Jesus Christus.
Denen fühlen Sie sich näher als dem Posten eines "planet managers"?
Weiß Gott!
Interview: Jochen Temsch
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