Tod im Job

oder der alltägliche Wahnsinn


Wolfhard, mein Ressort-Kollege vom Nachbarzimmer ist tot. Mittwoch haben wir noch in einer Konferenz zusammen gesessen. Da sah er schon sterbenselend aus. Sein Gesicht wies um die Augenpartie einen handteller großen, gelben Flecken auf.
"Wolfhard",
habe ich gesagt, als die Kollegen das Konferenzzimmer verlassen hatten und wir allein noch zusammen dort saßen,
"Wolfhard, Du hast einen gelben Fleck im Gesicht. Deine Leber wird nicht mehr richtig arbeiten, Du mußt zum Arzt!"

Er hat mich lange, tief, traurig, wie weit von ferne angesehen. Ich bin seinem quälenden Blick irgendwann ausgewichen. Ich blieb unwissend, verstand ihn nicht, sah gefühllos weg vom schmerzenden Schrei aus seinem gequälten, letzten Blick. Es war meine letzte Chance, ihm unverzüglich, an dem Arbeitstag ein rettendes Krankenhausbett zu verschaffen. Er hätte "ja" dazu gesagt, wie er immer "ja" zu jedem, zu fast allem sagte. Doch ich ließ alle Zeichen unbeachtet. Wie leichtfertig ließ ich die drückende Stimmung mit ein paar flapsigen Worten wegwischen. Mit diesem gewohnten, leeren Wortgetöse übertönen wir ständig unsere innere Stimme:
"Ja, ich fühle mich elend, ich lege mich jetzt hin."

So verließ er uns am Mittwoch. Es war etwa 16.00 Uhr, als er seinen Rechner ausmachte und ging. Seit Wochen hatte ich schon aus dem Nachbarzimmer seinen würgenden, krächzenden Husten gehört. Sein Kollege und Ressortchef Burkhard, der ihm gegenüber sitzt, hat schon geschimpft:
"Furchtbar geht das, manchmal hustet er von 10 Minuten neun!"
Wolfhard hatte ein paar Mal in den letzten Wochen von seinen Schmerzen gesprochen, dass ihm alles weh täte, die Glieder, die Muskeln, einfach alles. Burkhard hatte ihn auch an einem der letzten Wochenende wieder einmal im Jugoslawen-Restaurant gesehen. Es war also klar, dass er wieder soff. Doch danach gefragt hat ihn keiner. Es war und blieb sein Problem. Jetzt, wo er tot ist, haben wir ein Problem mehr mit uns selbst.
Im Herbst 1994 kam er auf mein Arbeitszimmer. Das Programmierer-Magazin Toolbox, das er etwa 6 Jahre als Redakteur mitgestaltet hatte, sollte nicht mehr im Verlag gemacht werden. Es warf nicht mehr genug Gewinn ab. Sein damaliger Kollege Jörg übernahm die Zeitung und lebt heute noch von der Toolbox im eigenen Verlag.
Wolfhard kam also im Herbst ´94 auf mein Zimmer. Ich war gerade wieder in den Betriebsrat nachgerückt, in dem er schon fest als Mitglied saß. Denn er war von Kollegen und Geschäftsleitung wohl gelitten. Ich litt unter seinem Zustand. Er kam manchmal gegen 11.00, halb Zwölf zur Arbeit, manchmal gar nicht. Wenn er kam oft mit unsäglichem Gestank.
Ich habe eine Betriebsratsitzung beantragt und vorgeschlagen, ihn aus dem Betriebsrat auszuschließen, weil er so keine Vorbildfunktion für die Kollege wahrnehmen könne. Als Alternative sollte er sich umgehend einer Therapie unterziehen. Er wollte ja immer alles, alles tun, was man ihm vorschlug, er wollte mit allen Frieden, er wollte seinen Alkohol, der war sein Leben. Und er wollte sein Leben.

Wolfhard - glücklich und gesund

Also ging er gleich bereitwillig auf die Therapie ein. Ich fuhr ihn zuerst zu einer Gruppe anonymer Alkoholiker. Hier traf er Leidensgenossen, die ihm den weiteren, rettenden Weg weisen konnten. Der ging kurzfristig über eine Schnellentgiftung in der Nussbaumklinik, die ihn nach kurzem Vorgespräch sogleich aufnahm. Kurz vor Weihnachten 1994 fand dies statt. Zur stationären, dreiwöchigen Aufnahme dort machte er sich selbst auf.
Danach ging seine lange stationäre Behandlung weiter. In der ging es darum, ihn von seiner psychischen Abhängigkeit an die Droge Alkohol zu befreien. Sieben Monate fehlte er also im Betrieb, bis er seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. Er saß weiterhin bei mir auf dem Zimmer. Oftmals nahm ich ihn mit in die Stadt zu den abendlichen Treffen der anonymen Alkoholiker. Seine Arbeitsleistung war nicht zu beanstanden. Ständig blieb ich mit ihm gleichsam auf Tuchfühlung. Er blieb auch mir keine Rechenschaft schuldig, die ich ihm abverlangte. Er war mein Zimmerkollege, für den ich mich im Rahmen meiner schwachen Kräfte verantwortlich fühlte. Ende 1997 zog die Firma von F. wieder zurück nach P. ins selbe Gebäude, in dem ich Oktober 1990 meinen Job als Redakteur begonnen hatte.
Diesmal kam Wolfhard mit Burkhard auf ein Zimmer. Dies bot sich an, weil beide starke Raucher waren. Obwohl ich das dunkle Gefühl hatte, dass er bei Burkhard kaum eine Chance hätte, sagte ich kein Wort. Ich ließ es nicht mehr meine Angelegenheit sein. Bei mir auf dem Zimmer musste er immer auf dem Gang rauchen. Ich kam mit meinen fachlichen Fragen zu ihm. Er erzählte mir von seinen AA-Treffen.
Ab Anfang ´98 saßen also Burkhard und Wolfhard auf einem Zimmer - neben meinem. Es wäre mir leicht gewesen, seinen Zustand zu erkennen. Doch diesmal erlaubte ich der verschärften Konkurrenzsituation in der Firma, in unserem Ressort, die fundamentalen, mitmenschlichen Notwendigkeiten zu vergiften. Auf fachlicher Ebene hatte ich gegen unsere beiden Experten Burkhard und Wolfhard im Ressort Programmierung keine Chance.
Die Betriebsratwahlen am 27. März 98 gewann Wolfhard mit einer Stimme, einem Platz vor mir. Doch hatten wir beide unsere Plätze verloren und waren nur noch Nachrücker.
Der neue Geschäftsführer M. übernahm Anfang 1998 die Leitung. Kurze Zeit später, im Februar, nach nur 9 Monaten Amtszeit trennte sich auch wieder unser Chefredakteur J. von uns, ein einmaliger, seltener, guter und geachteter Chef.
Im sich weiter verschärfenden Konkurrenzkampf wurden wir gleichsam verfeindete Kollegen, wobei sich - wie stets - die Besseren, Besten, Einfühlsamen, Hilfsbereiten ausklinkten: der 20 Jahre jüngere Kollege Manfried, mein Online-Nachfolger, ging nach zweijährigem Gastspiel zurück nach Köln, mein Freund Dr. Klaus macht sich wie Chefredakteur J. selbstständig, Jobst, Familienvater, Wassermann und Ressortleiter aktuell geht wie Kathrin, die liebenswerte Redaktionsassistentin, zur Konkurrenzpresse, Wolfgang, Ressortleiter Software, der sich gesundheitlich nicht mehr in der Lage sah, den Stress zu bewältigen, versucht auch die Selbstständigkeit. Wolfgang wurde schließlich auch schon 33 Jahre alt.
Wolfhard ist 41 Jahre alt geworden. Er starb, ohne seinen gesammelten Urlaubsanspruch von 38 Tagen eingelöst zu haben.
Mittwoch habe ich ihn letztmalig lebend gesehen. Jetzt, wo er tot ist, scheint mir seinen letzter Blick zu bedeuten: 
"Hast Du nicht mehr für mich als Deine leeren Worte: Du musst zum Arzt gehen?"
Er musste eben nicht zum Arzt gehen, weil ihm das niemand abverlangte, was alle ihm ansahen, das er es hätte machen müssen. Aber das er sterben musste, wussten wir nicht, wirklich nicht? Jetzt, wo ich die Situation seines ersten Entzugs in der Nussbaumklinik aus der Erinnerung hervorhole, weiß ich wieder, wie brandeilig den medizinisch Verantwortlichen seine Einweisung war. Im Arbeitsalltag verdrängte ich diese Tatsachen.
Donnerstag fehlte er wieder unentschuldigt, wie vor zwei Wochen schon einmal. Damals hatte er gewagt, sich Freitag einen freien Tag zu nehmen. Am Montag war er nicht zur Arbeit gekommen. Als Geschäftsführer M. ihn Dienstag in der Konferenz fragte:
"Aber anrufen hättest Du doch können, oder?" 
haben wir wieder alle verstanden, dass er nicht anrufen konnte. Denn wie er am Dienstag in der Konferenz sagte, dass er sich nicht aus dem Bett hätte bewegen können, da war das nicht zu bezweifeln. Es war ein Wunder, wie er in der Konferenz sitzen konnte. Zu spät sind wir klüger geworden.
Mittwoch sahen wir ihn letztmals lebend. Donnerstag war wieder Konferenz. In der Mittagspause bin ich mit Burkhard die 3 Minuten Fußweg vom Job zu seiner Wohnung gefahren. Die Rollläden waren vor die Fenster gezogen. Genau so hatte es ausgesehen, als wir vor seinem 95er-Entzug bei ihm häufiger vorbeigeschaut hatten. Damals hatte ich durch einen Spalt ein verschimmeltes, halbes Brot gesehen. Diesmal sahen wir einen Stapel Tonic-Flaschen, doch es war auch eine Zweiliter Weinbombe zu sehen. Sein Nachbar war zufällig da, ließ uns herein. Ich bollerte an seine Tür.
"Wolfhard!",
"Hör auf",
meinte Burkhard,
"das ganze Haus wird aufmerksam. Vielleicht ist er ja beim Arzt."
Und ich hörte auf. Ich hörte sogar auf, weiter seine Rollläden zu untersuchen. Ich warf mich lieber in den September kalten Baggersee, um lange zu schwimmen, meine Lebensgeister zu stärken. Wie sehr die Dinge im Job aus dem Lot gerieten, merkte ich an meinen schlaflosen Nächten, die regelmäßig spätestens um 3.00 Uhr vorbei waren. Im Job meinte Burkhard noch:
"Der wird keine 50! Der muss wieder ins Trockendock. Doch dann kriegt er Schwierigkeiten hier im Job."
"Der säuft sich tot!",
wusste ich es besser, aber mehr wusste ich auch nicht.
Nachmittags war wieder Konferenz. Geschäftsführer M. und kommissarischer Chefredakteur schwebt beschwingt herein und begrüßt mich jovial:
"Na, der Urlauber!"
In der Tat habe ich die zweite Woche Urlaub in diesem Jahr mir zu nehmen erdreistet. In der Firma bat ich gleichsam die Kollegen, die 40, 50 Tage Urlaubsanspruch vor sich her schieben um Verständnis: Ich "musste" meine 77jährige Mutter nach Italien bringen und nun wieder holen.
"Wo ist Wolfhard?",
fragt M. als nächstes.
"Der ist krank, er sah gestern sehr schlecht aus!"
"Ach, der sieht doch immer schlecht aus",
witzelt sich unser Jungmanager über die Situation. 
Meine Support-Seiten hängen voller bedrohlicher Streitpunkte in der Textredaktion bei Mike fest. Dieser neue Textredakteur weiß, was die Leser heute wollen. Zudem hat M. gerade meinen RunDLL-Beitrag mit rotem "Wichtig-Ausrufezeichen" in Outlook kommentiert und zurückgegeben:
"Ich habe das Gefühl, dass Du gar nicht verstanden hast, was Du da redigiert hast. Beim nächsten Mal mehr Sorgfalt!"
Peter hat gerade von seinem Jahresgespräch mit ihm berichtet, in dem ihm Verleumdungen, die schon vor zwei Jahren nicht stimmten, wieder vorgeworfen wurden. Zudem kommt F., Chefin vom Dienst, rein und drängt:
"Deine Online-Seiten musst Du aber noch kürzen, längen, notfalls selber im Layout bearbeiten. Das kann sonst keiner mehr machen!"
Das bedeutet für mich wie für jeden, im Job, in Konferenzen unauffällig und dienstbeflissen aufzutreten, weil der lukrative Posten höchst gefährdet ist - immer. Und nahezu jeder Kollege weiß alles besser als Du.
"Diesen Monat hat Wolfhard aber gearbeitet!",
legt sich Burkhard im Gespräch mit mir ins Zeug, also auch von der Seite höchste Konkurrenz und Gefährdung des Jobs. Gerade haben Wolfhard und Burkhard die Seiten der Programmierung neu und zeitgemäß strukturiert. Die Rubriken, die Leser mit ihren Einsendungen, ihrer Phantasie gestalten konnten, waren nicht mehr zeitgemäß. Seit 8 Jahren hatte ich sie betreut. Dafür hatte Wolfhard eine Werkstatt für Visual Basic und eine für Delphi konzipiert. Profis liefern nun die Seiten. Und als letzte Arbeit hat Wolfhard die Dateistruktur von Windows auf dem Plakat zum November-Heft dokumentiert.
"Ein Spitzenmann",
sage ich Burkhard, der mich fragend anblickt,
"wenn er nicht säuft", schränke ich ein.
Freitag fehlt Wolfhard wieder. Für mich ist die Woche im Job wieder mal Hölle, Vorhölle zumindest. Jede Nacht wach ab 3.00 Uhr grübele ich über diese Differenzen mit Mike, diese sinnlosen Diskussionen, die Mahnungen M.s, Wolfhards Krankheit, und will mich nur am Nachmittag in den Urlaub retten.
Also gehe ich Freitag zu Werner, dem stellvertretenden Betriebsratvorsitzenden, um ihm von Wolfhard zu erzählen. Wir wollen gleich mittags in der Pause nach Wolfhard sehen, wenn er sich bis dahin nicht meldet. Werner ruft kurz vor Zwölf an. Ich taumele über den Seiten von Mike, über dem unverzüglich zu erledigenden Online-Teil, schaue kurz ins Nachbarzimmer rein, doch Wolfhards drei Monitore sind schwarz.
Also fahren wir rüber, sehen wieder die geschlossenen Rollläden , doch Werner sieht mehr:
"Da ist doch Licht!",
Wir leuchten mit meiner starken Taschenlampe in den Raum, sehen Wolfhards aschfahles Gesicht wie im Schlaf, ein Arm liegt über dem Kopf, einer hängt aus dem Bett. In mir murmelt eine Stimme: 
"Der ist tot!", 
die ich wieder überhöre. Wir wollen in einer Stunde nochmals vorbeischauen. Wenn er dann noch immer in dieser Stellung liegt, müssen Helfer sich mit polizeilicher Hilfe Zugang verschaffen.
Wolfhards Bruder B. arbeitet 50 Kilometer weit entfernt auf der anderen Seite der Stadt in einem Vorort. Ich kenne B., war mit ihm in seinem Elternhaus, hörte den verwirrten Geschichten seinen Vaters zu, der im Bautzener Zuchthaus als 17jähriger von 1945 bis 1952 einsaß. Ihn hatten bei Kriegsende die einrückenden Russen mit einer Waffe erwischt. Also rufe ich B. an. Er steckt übermäßig in seiner Arbeit als selbständiger Computerjournalist. Doch er will schnellstmöglich kommen. Er hat einen Schlüssel zu seines Bruders Wohnung.
Ich arbeite weiter an meinen Seiten. Der Mietwagen für unsere Italienfahrt steht vor der Tür. Meine Freundin kommt um 16.00 Uhr reisefertig in die Firma. Wir wollen nachts schon in Italien unser Zelt aufbauen. Ich arbeite auf meinen Urlaub hin.
Werner fragt derweil bei der Suchthilfe um Rat. Die rät zu Notarzt und gewaltsamer Wohnungsöffnung durch die Polizei. Andernfalls können wir uns unterlassener Hilfeleistung schuldig machen. Wohl wahr.
Werner und ich sehen um 12.45 Uhr Wolfhard wieder - unbewegt.
Zurück in meinem Arbeitszimmer, ruft Werner den Notarzt an, ich benachrichtige nochmals seinen Bruder B., dass er nun nicht mehr komme brauche. Wir werden Wolfhards Wohnung aufbrechen lassen. Doch B. ist nun auch in höchster Eile:
"Ich fahre sofort los,"
sagt er.
Werner wartet mit mir vor Wolfhards Tür, Margeritenstrasse 25. Der Krankenwagen kommt zuerst. Der Helfer schaut mit meiner Lampe in das Zimmer auf Wolfhards Gesicht und sagt einsilbig:
"EX!"
Ungläubig schüttele ich den Kopf, da versichert er mich:
"Wir können hier nichts mehr machen, wir könnten hier gleich wieder abfahren."
Doch sie bleiben erstmals. Als nächstes kommt eine Polizeistreife, dann ein weiterer Notarztwagen. Die Polizisten treten die Tür ein. Durch ein Meer von leeren Flaschen tasten wir uns vorsichtig in Wolfhards Zimmer.
"Wolfhard!",
murmele ich fassungslos. Die Räume stehen voller Plastiktüten, bis zum Platzen mit leeren Flaschen gefüllt. Sämtliche Zimmer sind mit Flaschenpaketen belagert. Selbst Umzugskartons enthalten diesen Altglasmüll. Im Pay-TV sehe ich, wie Rennautos im Kreis fahren.
Zwei Arztschwestern untersuchen das Klo, ich höre Worte von Durchfall, Blut, Pankraz. Sie suchen nach Medikamenten, finden keine. Nur Flaschen, leere Flaschen. Drei in Plastik verschweißte Dauerwürste sind das einzige Essbare, was ich in dem Chaos entdecke.
Der Arzt tröstet uns damit, dass er kampflos gegangen ist:
"Wie wir uns zum Schlafen legen, so hat er sich schlafen gelegt. Nur ist er nicht mehr aufgewacht."
"Nur,"
schränkt er diese beruhigende Sicht ein,
 "war er noch zu jung dazu. Doch jetzt ist er wohl schon mehr als 24 Stunden tot. Die Leichenstarre ist schon wieder gewichen." Aber im Polizeiprotokoll lese ich: "tot >12 Std."
Die beiden Krankenfahrzeuge fahren ab. Ein Handwerker der Feuerwehr repariert die aufgebrochene Tür. Im unauffälligen, alten BMW kommen zwei Männer von der Kripo. Mit dem Diktiergerät in der Hand beginnen sie, ihre Protokolle aufzunehmen. Ihre Blitzlichtkameras beleuchten das gespenstische Chaos. Werner und ich warten derweil draußen im Regen auf Wolfhards Bruder. Wir warten bis 14.00 Uhr, sage ich, dann fahren wir zurück zur Firma.
Dort, vor der Firma kommt uns B. entgegen, der sofort meine Lichthupe versteht und anhält. Wir steigen aus, stehen uns gegenüber. Ich deute einen Strich durch die Luft an, den B. vorgibt, nicht zu verstehen. Werner sagt es ihm. Bs Knie zittern. Doch gleich darauf ist er wieder der harte B.
Ich begleite B. in die Wohnung seines toten Bruders. B. sieht das Chaos. Er schützt sich wie zeitlebens sein harter Bruder Wolfhard mit gleichsam gelassen klingenden, geschäftsmäßigen Betrachtungen. Die Verhaltensweisen gleichen sich, von der Zeit für die Zeit gemacht. Und so ist der Lauf der Zeit, business as usual.

Experten wie Viviane Forrester lancieren Bestseller zum Thema: "Terror der Ökonmie". Derzeit legt Carl Amery nach: "Hitler als Vorläufer". Was die Zukunft für das Kollektiv bringt, kündet sich in "bedauernswerten Einzelschicksalen" an. Das war eine Lieblingsvokabel des vorigen Geschäftsführers, den Wolfhard als Betriebsrat schätzte. Dann muss B. seinen Bruder auch noch einmal identifizieren, wie Werner und ich zuvor unseren Ex-Kollegen. B. hilft der Kripo dann, gleich das Protokoll zu vervollständigen:

"Anfang Juni war ich das letzte Mal bei ihm. Aber nicht in der Wohnung. Er ist gekommen, und wir sind Essen gegangen. Er war da trocken."

War er wohl nicht. Jetzt, wo es zu spät ist, sehen wir die schrecklichen Tatsachen, ohne uns länger belügen oder beruhigen zu können. Jetzt wissen wir, wie es war. Doch was nützt das?
Im Traum wandern die unerledigten Gedanken und versäumten Taten zum lieben Kollegen zurück:
 "Wir waren zu seinem Begräbnis versammelt. Da klopft er aus seinem Sarg heraus. Wir öffnen seine letzte Truhe. Er setzt sich darin auf und will sich uns verständlich machen. Doch er kann nicht reden. Ich gebe ihm einen Zettel, auf den er schreibt: DU EIOPEI! Dann gibt er mir dies Zeichen zurück."
War dies nicht symbolisch für unseren letzten Wochen, ja Monate? Schweigsames Nebeneinander, was sich über seine entsetzliche Krankheit mit einem blöden, blinden "eiapopeia" hinweg trösten, hinweg belügen wollte?
Wie er sich selbst und uns über seinen traurigen Zustand zu täuschen verstand, zeigt seine Schauspielkunst. Fachlich hat er mich etwa vor zwei Wochen sein letztes Mal beschwindelt. Es ging um das Abspielen von MP3-Musik-Dateien, wie einige Lieder von meinem Kabarett-Programm vor bald 20 Jahren auf die Heft-CD zur Ausgabe 10/98 gepresst sind.
Wolfhard behauptete, dass er daheim auf seinem 486er MP3-Musik ohne Aussetzer abspielen könne. Burkhard war ungläubig wie ich, weil die Spezifikation dafür einen Pentium-Rechner zumindest mit 90-MHz-Prozessor erfordert. Nachdem ich daheim auf meinen beiden 486er vergeblich versucht hatte, die MP3-Daten zu hören, beklagte ich mich im Nachbarzimmer über Wolfhards falsche Auskunft.
"Ach, der",
meinte Burkhard abfällig,
"der erzählt Dir doch Seemannsgarn."
Wolfhard war Offizier zur See, sieben Jahre auf großen Fahrten. Nun lächelte er verschmitzt, als sei ihm ein guter Streich gelungen. Mein mit ihm konkurrierendes Kollegen-Ego fühlte sich gekränkt und zog sich beleidigt zurück.
Doch wie ich seinen Leichnam zwischen den 500, 600 leeren Flaschen gesehen habe, denke ich, dass er daheim in den letzten Wochen, wenn nicht Monaten keinen Rechner mehr angefasst hat.
Was er für den Job machen musste, hat er vermutlich mit Leichtigkeit in der Arbeitszeit schaffen können. Er wusste mit seiner überragenden Intelligenz ohnehin immer alles besser - nur nicht das Wichtigste, wie zu leben wäre.
Oft habe ich ihn, haben ihn Kollegen um fachlichen Rat gefragt. Und er hat sich für jeden Fragenden Zeit genommen. Und keine Frage war ihm zu dumm.
Einmal, lieber Wolfhard, habe ich Dir zur Entziehungskur verholfen. Jetzt weiß ich, dass Dir diese Kur noch nicht einmal drei kurze Jahre mehr schenken konnte.
Jetzt beklage ich nutzlos, dass ich Job, Position, Einkommen wichtiger genommen habe, als nach Dir zu sehen. Und Du, alter Wolf, harter Seemann, hast Deinen Job, Deine letzten Seiten für unser Magazin wichtiger genommen als Dein eigenes Leben. Für Deine Position haben Verstand und Willen Deinen Körper so vergewaltigt, dass Du bis zur letzten Konferenz, bis zur Abgabe Deiner letzten Seite zur Ausgabe 11/98 unbeanstandet durch Deinen Arbeitsalltag gegangen bist.
Deine letzten beiden unentschuldigten Fehltage mag die Buchhaltung mit Deinem Urlaubsanspruch verrechnen, wenn denn das Geschäft dies erfordert.
Dass Dir keiner mehr geholfen hat, das müssen wir mit uns tragen, selbst wenn uns kein irdischer Richter ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung mehr aufmachen wird. Und einen anderen Richter gibt es ohnehin nicht für uns.
Doch was ist es, dass uns in schlaflosen Nächten selber richtet? Was sind wir? Wer bist Du in diesem Trauerspiel, in diesem Leben? "Wer bin ich?" fragen die Weisen zu allen Zeiten, an allen Orten der Erde.
Wolfhards Bruder, schreibt dazu:
 "Aber all das Lamentieren hilft nichts, wir leben weiter, und wenn wir dann endlich den "Arsch zukneifen", 
dann wird uns das alles egal sein. Dann können wir für uns selbst "leben" und müssen nicht permanent an unsere lieben Mitmenschen denken. Ich denke da besonders an unseren Ex-Kollegen H., mit dem ich seit kurzer Zeit wieder in Kontakt bin. Was hat dieser Mann nicht alles auf sich genommen, um das Magazin auf den Markt zu bringen. Knapp 80 Tage Resturlaub, bis morgens um vier Uhr in der Redaktion und dann kriegt er zu hören, dass er nicht Repräsentant genug sei, als Chefredakteur zu fungieren. Dann kommt noch der N. dazu, der einen Magendurchbruch in der Firma bekommen hatte, kurz nachdem er noch ein letztes Layout machen durfte.

Ein Buch zur Zeit passt dazu.


n0by im  Job 1991



Freund Bernhard mit Frau in Thailand 1996 (?)

 

Tod ohne Job


Donnerstag, 25. September 2003. Meine Frau und ich sitzen beim Frühstück. Ein neuer Urlaubstag beginnt bei blauem Himmel am Mittelmeer in Südfrankreich. Le Grau du Roi, Luxus in neuem Beton direkt um den Hafen, in dem Jachten dümpeln. Meilenweit Strand, Sand und Meer.

Ein Anruf aus Deutschland. Karl-Theo, einst Hardware-Kollege im Magazin vor Jahren meldet sich:

"Bernhard ist tot. Er starb wie sein Bruder. Der war fünf Jahre älter. Bernhard starb fünf Jahre später. Vor zwei Wochen war ich das letzte Mal bei ihm. Bernhard, sagte ich, wir müssen hier mal aufräumen."

Karl-Theo hatte Bernhard eine Wohnung in Eschwege gegeben. Karl Theo hat Bernhard oft unterstützt.

Nach dem Tod seines Bruders hat Bernhard seinen Job bei der Zeitung gekündigt. Er wollte leben, richtig leben. Das dachte er, in Thailand zu können.

Also hat er seine Lebensversicherung beim Presseversorgungswerk gekündigt. Nach sieben Jahren Arbeit als Redakteur bei sparsamen Lebenswandel kam einiges zusammen. Es waren etwa 70000 Mark, hat er berichtet. Zudem kam das Geld von der Lebensversicherung seines Bruders.

Mit diesem Geld - etwa einer sechstelligen Summe - lässt sich in Thailand eine Zeit lang leben. Zum ersten Mal kam er aus seinem Langzeiturlaub mit Frau in die Reaktion. Ein blühende, asiatische Schönheit, Jahrgang 1971.

Das Paar mietete ein Haus am Meer. Bernhard kaufte zwei Mopeds, die er Touristen vermieten wollte. Bernhard wollte viel. Doch zuerst bekam die Frau Kinder, Zwillinge. Von Bernhard in Thailand.

Als Bernhard zurück kam, hatte er sein Geld in Thailand angelegt. In Erfahrung.

In Deutschland wollte er schnell und kurz neues Geld machen, um zu Frau und Kindern nach Thailand zurückkehren zu können. Doch das war nicht so einfach. Seine Mansardenwohnung in München musste er aufgeben. Seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte er gerade um wenige Monate überzogen. Sein Anspruch war also verfallen. Er war etwas zu lange fort aus der kalten Heimat, um Arbeitslosengeld erhalten zu können.

Also erhielt ihn das Sozialamt. Einmal besuchte er uns noch in München. Er hatte eine Umschulung als Datenbankadministrator abgeschlossen. Er suchte einen Job. Die IT-Branche ging gerade in die Krise. Es gab keinen Job für Bernhard. Nicht in München, nicht in Eschwege. Ein Praktikum beim Mitteldeutschen Rundfunk war das letzte, was er erreichte.

Bernhard war kaum mehr zu erreichen. E-Mail hatte er nicht eingerichtet, Briefe blieben unbeantwortet, die Karte von seinem Handy ließ er ablaufen. Karl Theo berichtete Bruchstücke, wenn wir telefonierten.

Ansonsten gehe es Bernhard wohl gut. Alkohol sei zwar eine Gefährdung, doch er habe das wohl im Griff. Oder der Alkohol ihn.

September 2003. Bernhards Nachbarin rief Karl Theo an, dass sie ihn schon eine Woche lang nicht gesehen hätte. Also sah sie nach, ob der die Wohnung verschlossen war. Der Schlüssel steckte - von innen.

Die Wohnung wurde geöffnet. Bernhard lag neben dem Bett. Die Polizei schließt Fremdeinwirkung an seinem Tod aus.

So starb Bernhard wie Wolfhard. Sie starben wie ihre Mutter. Treue Diener ihres Königs Alkohol.

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